Afghanistan verstehen…

…und die islamische Stammeskultur –
Reisebilder aus der Friedenszeit – 1967

Inhalt:

  • Teil I Persönliche Einführung:
    Wie ich nach Afghanistan kam – Seite 7
  • Teil II Historische Einführung:
    Stammeskultur und staatliche Herrschaft –
    ein dauerhafter Konflikt – Seite 19
  • Teil III Das Land in Bildern  und Geschichten:
    Erfahrungen und ihre Hintergründe – Seite 47

Leseprobe:

Teil II – Historische Einführung:
Stammeskultur und staatliche Herrschaft – ein dauerhafter Konflikt

Afghanistan verstehen – wozu?
Jemand fragte mich: Was bringt es denn, außer nostalgischen
Gefühlen, sich mit dieser versunkenen Welt, mit der Vergangenheit
dieses fremden Landes zu befassen? Ist das überhaupt noch aktuell?

Meine Antwort ist einfach: Wir in der BRD leben in einem stabilen
und weitgehend geordneten Staatsgebilde. Das weiß ich sehr zu
schätzen und das möchte ich auch nicht missen. Doch wir halten
diese staatliche Ordnung gewöhnlich für allzu selbstverständlich und
nehmen sie gerne als eurozentrischen Maßstab.

Durch diese voll verinnerlichte „Staatsbrille“ schauen wir dann auch
auf andere Länder, die als „Staat“ auftreten, aber keine Chance hatten,
sich zu Staaten im westlichen Sinne zu entwickeln. Dann sind wir
über ihre Unzulänglichkeiten schnell empört und tun uns schwer,
sie zu verstehen. Denn viele dieser Staaten sind eigentlich fragile
gesellschaftliche Gebilde aus verschiedensten Stammeskulturen, die
erst noch auf dem Weg sind, ein Staat zu werden. Diese Diskrepanz
versuche ich hier – am Beispiel Afghanistan – nachvollziehbar
darzustellen: De jure existiert ein Staat, aber de facto herrschen die
Clans.

Diesen Konflikt sollten wir verstehen, denn er ist nicht nur in den
südlichen Ländern der Welt weit verbreitet, sondern inzwischen auch
schon in unserem eigenen Land angekommen.

Seit einigen Jahrzehnten bereitet er den Ordnungsmächten in
manchen Großstädten der BRD fast unlösbare Probleme: Mächtige
türkisch- und arabischstämmige, teilweise kriminelle Clans
beherrschen ganze Stadtviertel als „ihr Revier“. Ihre Stärke liegt im
engen großfamiliären Zusammenhalt nach innen und der strikten
Abschottung nach außen.

Sie leben ihre eigene, staatsferne Lebensform – nach ihren eigenen
Gesetzen und mit eigener Gerichtsbarkeit, teilweise auch mit Gewalt.
Gegenüber diesen machtvollen, patriarchalen Parallelgesellschaften,
die dazu neigen, unseren Staat zu verachten, kann sich unser
Rechtsstaat oft kaum noch durchsetzen. Das ist bedauerlich.

Stammesgemeinschaften geben Halt

Moderne Staaten sind uns gewöhnlich vertraut, aber wie
funktionieren traditionelle Stämme und Clans? Dazu muss ich etwas
weiter ausholen: Staaten gibt es noch nicht lange. Die ursprüngliche
Lebensform der Menschen war – und ist für viele heute noch – die
Stammesgemeinschaft, der Clan, die Großfamilie.

Die Stämme sind, als kleiner, fühlbarer sozialer Rahmen, etwas klar
Begrenztes, Überschaubares, Haltgebendes. Sie bieten die geeignete
ökonomische und emotionale Grundlage, auf der wir Menschen eine
stabile, gemeinschaftliche Identität entwickeln können. Sie bieten ein
verlässliches soziales „Kontinuum“ (Jean Liedloff). Denn solch ein
vertrauter Lebensrahmen erfüllt die menschlichen Grundbedürfnisse
nach Verbundenheit, Zugehörigkeit, Sicherheit und Geborgenheit.
In ihm geschehen alle wesentlichen Lebensvorgänge:
Soziale Bindungen, Lieben, Kind-sein, Lernen, Erwachsen-werden,
Arbeiten, Rituale feiern, das Leben mitgestalten, sich für die
Gemeinschaft einsetzen – und auch für sie kämpfen.
Alle diese Vorgänge geschehen noch zentriert und in einer
Gruppierung, gleichsam „unter einem Dach“…………

……

Demokratisierung – Bildung – Befreiung der Frauen

In diesen drei Bereichen nutzte der König den geringen politischen
Spielraum, der ihm blieb, für einige wichtige Reformen: 1963
erließ er die neue demokratische Verfassung. 1964 erreichte er
sogar, dass auch die Loya Dschirga, die große Ratsversammlung der
Stammesgesandten, ihr zustimmte. So führte er die Demokratie
von oben ein, allerdings nur halbherzig. Es gab zwar freie Wahlen
und Pressefreiheit, aber keine Parteien. In dem neu gebildeten
Parlament zählten nicht Parteien, sondern Personen und ihre
Stammeszugehörigkeit. Das geplante Gesetz zur Parteienbildung trat
nicht in Kraft.

Der König förderte besonders den Bildungssektor, so dass er
expandierte. Bildung erreichte auch die Landbevölkerung und wurde
weniger bekämpft. Auch viele Söhne von Kleinbauern studierten
nun. Die Uni Kabul brachte Massen von Absolventen hervor, sodass
eine neue, gebildete, aber zumeist perspektivlose Mittelschicht
entstand – eine Ursache für die kommenden Revolten.

Zu jener Zeit wurden an der Kabuler Universität einige Fakultäten
von westlichen Staaten und von der Sowjetunion gefördert, die
Wirtschafts- und Naturwissenschaften z.B. durch die BRD.
Die Kabuler Uni galt als das „intellektuelle Herz“ des Landes.
Sie hatte in Asien einen guten Ruf und man war stolz auf
sie. Ausländische Gelehrte lehrten neue Themen: u.a. auch
Kommunismus, Kapitalismus und Feminismus.

Mit der demokratischen Verfassung von 1963 wurde auch das
Wahlrecht für Frauen eingeführt. Mädchen durften die Schulen
besuchen, Frauen durften studieren und gelangten auch in höhere
Positionen. Der Schleierzwang wurde zwar schon 1959 gesetzlich
abgeschafft, aber die islamischen Gesetze herrschten wirkungsvoll
weiter, so dass die meisten Frauen nur vollverschleiert in die
Öffentlichkeit gingen. Einige Gebildete und Mutige zeigten dennoch
ihr Gesicht, ebenso die relativ freien Nomadenfrauen – und die
Landfrauen bei der Arbeit.